Alex Capus, "Eine Frage der Zeit"

"Fesselnde Unterhaltung"

Buchbesprechung im NDR v. 20.8.2007

Es beginnt mit dem Ende. Der Papenburger Schiffsbaumeister Anton Rüter schleppt sich, von Moskitos zerstochen, zu Tode erschöpft und fast verhungert durch das überschwemmte Grasland Ostafrikas. Da gerät er endlich an einen Bahndamm. Dahinter befindet sich ein Camp mit einem Kupferkessel voll duftendem Haferbrei. Aber das Lager gehört den feindlichen Engländern. Dennoch gelingt es ihm, sich des Kessels zu bemächtigen. Dabei stürzt er in eine Schlucht und verbrüht sich am heißen Essen.

Alex Capus lässt offen, wie es weitergeht und ob Anton Rüter sein Leben retten kann. Dafür erzählt er die spannende Vorgeschichte. 1913 entschied Kaiser Wilhelm, Deutsch-Ostafrika in Anbetracht der zunehmenden internationalen Spannungen aufzurüsten. Bei der Papenburger Werft bestellte er ein modernes Dampfschiff, das dort jedoch nicht vom Stapel gelassen werden sollte.

"Im ganzen Städtchen war bekannt, dass das Reichskolonialamt ein Schiff bestellt hatte, das sich auseinandernehmen und andernorts wieder zusammensetzen ließ, sozusagen im Baukastensystem; jedermann wusste, dass Anton Rüter die Götzen in 5.000 Holzkisten verpacken und tief im Innern Afrikas, südlich des Kilimandscharo wieder zusammenbauen würde."

"Zur gleichen Zeit hatte in London der britische Marineminister Winston Churchill eine ähnliche Idee", erzählt Alex Campus. "Vom Ärmelkanal bis nach Kapstadt ließ er zwei Boote verschiffen und schließlich auf dem Landweg durch die Kalahari-Wüste über die Victoriafälle bis nach Albertville am Tanganjikasee schaffen. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges kam es zwischen den Angehörigen der verfeindeten Nationen notgedrungen zur blutigen Auseinandersetzung."

Diese historisch verbürgte Geschichte ist schon spannend genug. So wie Alex Capus sie erzählt, gewinnt sie zusätzlichen Reiz durch die eigenwilligen Charaktere der handelnden Personen.

Den britischen Leutnant Geoffrey Spicer Simson schildert er als einen unerträglichen Aufschneider, der seine bescheidene Karriere mehr als einmal durch seine Aufgeblasenheit zerstört. Aber als es darauf ankommt, wandelt sich der Maulheld überraschend zum umsichtigen klugen Strategen, dem plötzlich jedes Auftrumpfen zuwider ist.

Der sozialistisch angehauchte Handwerksbursche Hermann Wendt nimmt sich zu Beginn der Expedition rührend vor, den einheimischen Schwarzen brüderlich zu begegnen.

"Er wird sich nicht die Finger schmutzig machen, indem er zum Sklavenhalter wird. Er wird sein Bett selbst machen und für sich selbst kochen und seine Hütte selbst sauber halten. Er wird nicht die Seite wechseln."

"Doch es dauert keine 24 Stunden", so Capus, "bis Hermann Wendt sich seine Hütte von einer alten Frau fegen lässt. Den sexuellen Reizen einer Jüngeren erliegt er ebenso schnell. Bald steht an seiner ostafrikanischen Hütte das Schild: 'Wendts Biergarten' und seine Schiffsbauerkollegen Rudolf Tellmann und Anton Rüter kehren täglich bei ihm ein."

Nicht ganz so überzeugend ist der Entwicklungsprozess des sadistischen Kapitänleutnants Gustav von Zimmer. Er drangsaliert Anton Rüter, wo er nur kann und wird schließlich trotzdem zu dessen Freund.

In Wirklichkeit haben die drei deutschen Schiffsbauer Rüter, Wendt und Tellmann den Krieg überlebt. Der historische Abenteuerroman "Eine Frage der Zeit" bürgt für fesselnde Unterhaltung.
 


Auch in Afrika wird um 15.45 Uhr die Faltbadewanne aufgestellt

Buchbesprechung in "Der Tagesanzeiger" v. 21.8.2007

In Werner Herzogs Film «Fitzcarraldo» lässt der Held ein Schiff über einen Berg ziehen, mitten im Dschungel. Wahnsinn. In Alex Capus’ neuem Roman «Eine Frage der Zeit» hat dieser Wahnsinn Methode. Er geht überlegter vor; erfolgreicher ist er letztlich aber auch nicht. Capus erzählt eine wahre Geschichte: 1913 baut die Meyersche Werft im norddeutschen Papenburg ein Dampfschiff, das direkt nach dem Stapellauf wieder auseinander genommen, in seine Einzelteile zerlegt, in 5000 Holzkisten verpackt und nach Afrika verschifft wird. Mit der Eisenbahn geht es dann von Dar es Salaam nach Kigoma, an den Tanganyikasee. Das Gebiet gehörte damals zur deutschen Kolonie Ostafrika, und die Graf Götzen – so hiess der Dampfer – sollte auf dem 700 Kilometer langen Gewässer die Seehoheit gegenüber den angrenzenden Kolonialmächten Belgien und Grossbritannien behaupten.

Ganz wertfrei betrachtet, waren Zerlegung, Verschiffung und erneuter Zusammenbau (160 000 Nieten hielten das Schiff zusammen) eine Meisterleistung der Ingenieurkunst und Logistik. Alex Capus behelligt seine Leser aber nicht mit technischen Details. Ihn interessieren die Menschen auf und hinter dem Schiff. Der Baumeister Anton Rüter vor allem, der die Aufgabe als Herausforderung sieht und aus dem (gut entlohnten) afrikanischen Abenteuer das nötige kleine Kapital schlagen will, um seiner Familie ein Häuschen zu bauen. Seinen beiden Gesellen Tellmann und Wendt geht es ähnlich.

«Ihr seid Arbeiter, keine Krieger», sagt ein Massai zu den dreien, als sie in Kigoma den zweiten Stapellauf vorbereiten. So hätten sie es auch gern, aber da sind sie längst Soldaten wider Willen. Der Zivilist Rüter wird vom Kommandanten der deutschen Armeeeinheit am Tanganyikasee als «Gefreiter Rüter» herumgescheucht. Unmögliches wird von ihm verlangt, eine Feindfahrt mit einem noch nicht ganz fertigen Gefährt. Denn 1914 ist in Europa der Erste Weltkrieg ausgebrochen, und auch die Kolonialtruppen wollen ihre Scheibe vom Ruhm abschneiden.

Ein kleines Kanonenboot überquert den Tanganyikasee und schiesst einen belgischen Dampfer zu Schrott; die Engländer schlagen zurück, denn auch sie haben zwei Schiffe auf dem Landweg herangeschleppt. Eine Parallelaktion, aus der Capus die Struktur seines Buches gewinnt: der deutsche und der englische Schauplatz wechseln sich kapitelweise ab.

Ein Happyend für das Schiff

Die mit Abstand farbigste und kurioseste Gestalt ist dabei der englische Major Spicer-Simson. Schon sein historisches Vorbild wird in den Quellen als «typisch exzentrischer Engländer» geschildert, der auch am Endpunkt der Zivilisation auf seinem regelmässigen Bad besteht, jeweils mittwochs und samstags um 15.45 Uhr in einer eigens mitgeführten Faltbadewanne aus Segeltuch. Vorher entkleidete er sich vor den Augen der staunenden Schwarzen vollständig und liess seine Tätowierungen spielen.

Capus hat den Reiz der Figur erkannt und kräftig vom Seinen hinzugegeben. Im Roman ist Spicer-Simson ein tragikomischer Angeber, der hoch hinaus will und im entscheidenden Moment immer ins Fettnäpfchen tritt. Sein Grössenwahn ist monumental und liebenswert, vor allem wenn er wirklichen Experten beweisen will, dass er es besser weiss. Im Moment der Gefahr bewährt er sich aber durch Ruhe und Kaltblütigkeit. Ein echter Engländer eben; der Spleen zerstört den Charakter nicht.

Die deutschen Kontrahenten sind Capus ein wenig zu glatt geraten; einige tragen ihre Kolonialisten-Schuld geradezu aufdringlich vor sich her; das Bewusstsein Rüters etwa ist zu stark infiziert von dem, was man heute weiss und für richtig befindet. Gelungen an diesem Roman ist vor allem die Balance zwischen Schrecklichem und Groteskem. Gerade in der exotischen Ferne, wo Nachrichten erst nach Monaten eintreffen, zeigt sich die Absurdität des Krieges besonders krass – auch wenn die Auseinandersetzungen am Tanganyikasee gegenüber dem Massenmord auf Europas Schlachtfeldern fast folkloristisch anmuten. Wenn Capus eine Botschaft hat, dann ist es diese: Das militärische Denken, das die besten Köpfe wie ein böser Bazillus erobert, ist das Urübel des Zwanzigsten Jahrhunderts, seine Wurzeln liegen lange vor 1914, und seine Opfer werden vor allem die einfachen Leute.

Die wahre Geschichte, auf die sich Capus stützt, geht allerdings noch weiter. Die Graf Götzen, die von ihrem Erbauer schliesslich kontrolliert versenkt wird, damit sie nicht in die Hände der Engländer fällt, erlebt nach dem Krieg eine erstaunliche Auferstehung. Sie wird gehoben, mehrfach repariert und umgetauft. Heute gehört sie dem Staat Tansania und fährt, mit neuem Motor und unter dem Namen Liemba, immer noch auf dem Tanganyikasee herum, fast 100-jährig, als friedlicher Transporter. Wenigstens für das Schiff, das ja doch eine Art Hauptperson ist, ein Happyend. Schade, dass Capus es uns vorenthalten hat.
 



Der lange Weg nach Kigoma
 

Wie der schönste Dampfer Afrikas von Papenburg nach Kigoma kam und ein Brite zwei Boote durch den Urwald brachte: Alex Capus spielt Schiffe versenken

Elmar Krekelere in "Die Welt" v. 24.11.2007

Alles scheitert, hat der Schweizer Schriftsteller Alex Capus einmal gesagt, man muss nur lange genug dabeibleiben. Capus ist darin Experte. Im Scheitern. Im Scheiternlassen, besser gesagt. Darüber schreibt er die schönsten Romane. Und so ist es kaum eine Überraschung, dass "Eine Frage der Zeit", die Geschichte vom schönsten Schiff Afrikas, die Capus in seinem neuen historischen Tatsachenroman erzählt, nicht nur eine grandiose Geschichte voller seltsamer historischer Auswüchse ist, sondern auch eine mit gleich mehreren Untergängen.

Das schönste Schiff Afrikas trug den Namen eines schlesischen Grafen. Gustav Adolf von Götzen (1866-1910) hatte 1894, neun Jahre, nachdem Carl Peters die Gebiete um den Tanganjika-See in Zentralafrika für Deutschland erobert hatte, mit einer Expedition zur massiven Erweiterung der kolonialen Einflusssphäre des deutschen Reiches in Ostafrika beigetragen und 1905 den Maji-Maji-Aufstand in Deutsch-Ostafrika niedergeschlagen, der zwar weniger bekannt, aber kaum weniger blutig war als die Niederschlagung des Herero-Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika.

Drei Jahre nach Götzens Tod nun steht ein schöner Dampfer in der berühmten (und heute noch existierenden) Meyer-Werft von Papenburg. Der Schiffsbauer Anton Rüter hat sie sich ausgedacht, er hat sie gebaut. Er wird sie gleich zweimal bauen. Nach der Schiffstaufe mit "Heil Dir im Siegerkranz" und Champagnerflaschenwurf wird die "Götzen" noch vor ihrem Stapellauf sorgfältig wieder auseinander geschraubt und in 5000 Kisten verpackt. Sie haben einen weiten Weg vor sich. Sie schippern um Europa herum, durch Mittelmeer und Suez-Kanal bis nach Dar es salam, den Sitz der deutschen Kolonialverwaltung von Deutsch-Ostafrika. Mit der gerade fast fertig gebauten Eisenbahn geht es 1200 Kilometer weiter (was selbst heute noch fast eine Woche dauert) nach Kigoma am Tanganjika-See. Da soll die "Götzen" dann endgültig vom Stapel laufen. Und die deutschen Kolonien sichern gegen Belgier und Briten.

Von so etwas wollen die drei Papenburger Schiffsbauer, von denen Alex Capus erzählt, nichts wissen. Rüter, Tellmann und Wendt wollen das Geld verdienen, was sie für Aussteuer, Haus oder Schulden brauchten. Und das schönste Schiff Afrikas bauen. Alles andere ist ihnen egal, das deutsche Reich am Tanganjika-See zu verteidigen, der Krieg der heraufzieht, der Kolonialismus. Sie wollen sich heraushalten. Nieter, Arbeiter, Schiffsbauer sind sie. Ehrliche Häute. Sonst nichts. Nicht mal Abenteurer. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann sind sie - das vor allem zeigt Capus in seinem Roman - von dieser Naivität geheilt.

Naivität kann man ihrem Gegenspieler auf der anderen Seite nicht vorwerfen. Geoffrey Basil Spicer Simson ist mit 38 Jahren der älteste Leutnant der Royal Navy. Und sein Ego ist ungefähr so groß wie sein Name lang. Er schipperte ausdauernd als eine Art realer Conradscher Marlowe auf dem Gambia Fluss herum. Mehrfach hatte er seine Karriere fast versenkt, der ganzkörpertätowierte notorische Großsprecher. Und eigentlich war er am Ende, als ihm das Abenteuer seines Lebens in den Schoß fiel. Den Briten war die "Götzen"-Verschiffung nicht verborgen geblieben. Spicer Simson sollte - möglicherweise wollte man sich seiner auch nur halbwegs elegant entledigen - in einer Art Himmelfahrtskommando fürs noch nicht existierende Guinness-Buch der Rekorde, die Absurdität der "Götzen"-Expedition überbieten.

Das liest sich wie folgt. Zwei Motorboote mit den niedlichen und sogar französischen Namen "Mimi" und "Toutou" wurden auseinander gesägt und nach Kapstadt verschifft, von da ging's 2700 Meilen mit Bahn und Boot ins belgische Elizabethville (heute Demokratische Republik Kongo). Die restlichen 160 Meilen musste Spicer Simson, dem man beschied, das sei ja nur gerade so weit wie von London nach Manchester, eine Art Über-Fitzcarraldo geben, Schneisen schlagen und die Boote mit Dampftraktionsmaschinen und 1000 zusammengezwungenen Schwarzen nach Albertville an den Tanganjika-See verbringen.

In getrennten Zeitzügen und in unterschiedlichen Tempi laufen nun die Geschichten der Papenburger und des Briten aufeinander und die finale Auseinandersetzung zu. Capus bildet dabei - ohne selbst ins Karikieren zu verfallen - die koloniale Szene, in der sich die Emsländer wieder finden, in all ihrer Karikaturhaftigkeit, in all ihrer Schizophrenie ab. Nichts übertreibt er, nie verfällt er in jenen unangenehmen Männerliteraturton, den Abenteueromane so gern haben. Nüchtern erzählt Capus, knapp und genau. Zeigt, wie die Papenburger zwischen Platzkonzert und Auspeitschung von Eingeborenen lernen, dass man sich nicht aus der Zeit stehlen kann. Dass es kein moralisches Leben in unmoralischer Zeit gibt. "Das Einzige", sagt der später zum Edel-Nazi aufgestiegene Gouverneur Schnee bei Capus, "das Einzige, das ich den Schwarzen wirklich übel nehme, dass sie mich zwingen, Dinge zu tun, die ich selbst für böse halte, und dass ich als Mensch nicht die Wahl habe zwischen dem Guten und dem Bösen." Das, sagt er, "ist das Schicksal des kolonialen Menschen: sich zeitlebens immer wieder für die Selbstverachtung und gegen den Tod entscheiden zu müssen." Rasend schnell schlägt das zivile ins militärische Leben um, kaum ist der Krieg erklärt. Und niemand kann sich ihm entziehen. Rüter verschleppt zwar so gut er kann die Fertigstellung der "Götzen". Der Zeit entkommt er nicht.

Auf der anderen Seite nämlich wird Spicer Simson, der sich in seinem Größenwahn zwischendurch zum Vizeadmiral der Marine ausruft, tatsächlich fast zu jenem Helden, der er gern wäre (ganz erreichen kann er sich natürlich nie). Im Eiltempo lässt er einen Hafen bauen, fährt mit "Mimi" und "Toutou" hinaus auf den See, versenkt in genialer Manier erst die deutsche "Kigami" (sie war das erste deutsche Schiff, das im Ersten Weltkrieg überhaupt den Briten in die Hände fiel) und die schlappe "Hedwig von Wissmann". Als sich die Deutschen zurückziehen aus Kigoma, ergeht der Befehl, die "Götzen" zu versenken. Die hatte gerade mal eine Fahrt unter deutscher Flagge absolviert, eine Jungfernfahrt, an deren Ende eine umfangreiche Mängelliste stand. Rüter tut wie geheißen, er schmiert sie noch einmal, lässt sie versinken und verschwindet im Busch.

Die Geschichte der drei Papenburger ging weiter, nach dem Anton Rüter mit einer fantastischen Uniform aus dem Busch und in die Hände der Briten fiel, eine Szene, die Capus in einem Nachspiel seinem Roman vorausschickt. Im "Deutschen Kolonialblatt" vom 15. September 1917, so Capus in einem Interview, findet sich die letzte schriftliche Spur Rüters als gefangen genommenes Mitglied der Deutschen Schutztruppe. Nach zweijähriger britischer Gefangenschaft kehrten sie zurück nach Papenburg. Lange haben sie ihr Abenteuer nicht überlebt, sie starben an Tropenkrankheiten und den Spätfolgen der überstandenen Entbehrungen. Und das schöne Geld, dessentwegen sie sechs Jahre ihres Lebens geopfert haben, das wurde von der Inflation gefressen. Es leben noch Nachkommen in Papenburg. Von Nachruhm allerdings keine Spur.

Den konnte der ruhmsüchtige Gegenspieler wenigstens einigermaßen auskosten. Zum einen muss Geoffrey Basil Spicer Simson, der tätowierte Commander, der so gern Röcke trug, auf die Eingeborenen am Tanganjika-See derart Eindruck gemacht haben, dass sich am See immer noch Steinstatuen mit seinem Antlitz finden. Zum anderen wurde der Mann, der laut Wikipedia eine große deutsche Flotte im See versenkte, zwar wie die Papenburger tropenkrank nach Hause verbracht, arbeitete aber schon 1919 als Übersetzer bei den Friedensverhandlungen von Versailles. 1922 schrieb er mit an einer Reportage für National Geographic, Thema: "Mimi" und "Toutou". Seinen Lebensabend verbrachte er in British Columbia. Er starb 1947. Die Hollywood-Version seiner legendären Kigami-Versenkung kam 1951 in die Kinos - John Hustons "African Queen", dessen Entstehungsgeschichte ähnlich abenteuerlich war, wie Spicer Simsons Bootverbringung. Dessen britische Gesamtansicht brachte Giles Foden vor drei Jahren mit seinem Tatsachenbericht "Mimi and Toutou go forth - The bizarre battle for Lake Tanganyika" (dt. bei S. Fischer: "Die wahre Geschichte der ,African Queen").

Am längsten überlebt allerdings hat die "Götzen". Von Rüter gut geschmiert, überstand sie ihre Zeit unter Wasser, wurde wieder flott gemacht nach dem Krieg. Und sie fährt noch heute ziemlich genau von der Stelle ihres Stapellaufs in Kigoma ab. In 16 Stationen nach Upulungu und zurück. Sie muss auch fahren. Denn die "Liemba", so heißt sie heute, ist ein Lebensmittel für das fast infrastrukturfreie Gebiet, die einzige regelmäßig verkehrende Verbindung. Sie verbringt Waren und verschifft Flüchtlinge. Und in fünf Jahren wird sie hundert. Das wird sie schaffen, deutsche Wer(f)tarbeit, die sie dank Anton Rüter eben ist.
 


Die Moral der Schiffbauer


Stefan Otto in "Die Wochenzeitung" v. 20.12.2007

Alex Capus verwebt in seinem neuen Buch Fiktion mit wahren Begebenheiten im kolonialen Ostafrika während des Ersten Weltkriegs. Ein Roman, der auch als Antikriegsbuch gelesen werden kann.

Der Kampf um Deutsch-Ostafrika war ungleich. Nach dem Kriegsausbruch 1914 war die Übermacht der Belgier und Briten überwältigend. Fast scheint es, als hätte das Deutsche Reich seine Besitzungen kampflos aufgegeben. Gerade einmal 3500 Soldaten sicherten die Kolonie. Darunter befanden sich offenbar keine Schriftsteller. Denn die Gefechte in Ostafrika blieben in der zeitgenössischen Kriegsliteratur der zwanziger und dreissiger Jahre nahezu unberücksichtigt - abgesehen von einigen wenigen Büchern, die eine koloniale Expansion rechtfertigen. Der Schweizer Schriftsteller Alex Capus hat nun - fast ein Jahrhundert später - einen Roman geschrieben, der in historischer Detailverliebtheit auf das koloniale östliche Afrika im Ersten Weltkrieg blickt.

Eine Frage der Zeit» setzt am Vorabend des Kriegs im emsländischen Papenburg ein: In der Meyer-Werft läuft das Kanonenschiff «Goetzen» vom Stapel, das auf dem strategisch bedeutsamen Tanganjikasee im heutigen Tansania die militärische Hoheit sichern soll. Auf der Gegenseite plant die britische Royal Navy mittels kleiner beweglicher Barkassen die deutsche Übermacht zu brechen. Raffiniert lässt Capus zwei authentische Handlungsstränge sich aufeinander zu bewegen: Die Schiffbauer Anton Rüter, Hermann Wendt und Rudolf Tellmann reisen aus dem Emsland nach Afrika, um die zerlegte und mit der Bahn durchs Land transportierte «Goetzen» vor Ort zusammenzubauen und seetüchtig zu machen. In London erhält der Marineoffizier Geoffrey Spicer Simson von Winston Churchill den Auftrag, eine militärische Operation zum Tanganjikasee zu leiten.

Spicer Simson ist ein draufgängerischer Prahlhans, den es nach Taten dürstet. Die drei biederen deutschen Werftarbeiter dagegen richten sich am östlichen Seeufer ein und würden allenfalls von Moskitos und Heimweh geplagt - wenn nicht der Kriegsausbruch ihre Konflikte mit dem Gouverneur schüren würde. Im latenten Widerstand der Schiffbauer gegen den Wandel von der Zivil- zur Kriegsgesellschaft gewinnen Capus' Figuren an Charakter. Im Gegensatz dazu ist der parallele Erzählstrang mit Spicer Simsons unverschämtem Auftreten zwar bisweilen witzig, erscheint aber eher wie Beiwerk.

Auf die deutsche Propaganda, die in Afrika ihren «Platz an der Sonne» beanspruchte, reagieren die Papenburger unempfindlich. Vom kolonialen Gehabe ihrer Landsleute setzen sie sich ab. Anton Rüter etwa geniesst bei den afrikanischen Arbeitern den Ruf eines «Weissen ohne Peitsche». Aber sich den Ereignissen entziehen, das können auch die Schiffbauer nicht. Sie werden als Maschinisten bei Feindfahrten gebraucht. Die ersten Kämpfe lassen die Emsländer abstumpfen und ihre marxistische Arbeitermoral aufweichen. Dennoch verlieren sie nicht ihre Selbstachtung, sondern trotzen dem Gouverneur, als hätten sie bereits zwei Weltkriege hinter sich und mit dem chauvinistischen Nationalismus längst abgeschlossen. Zweifellos ist es ein Blick aus der Gegenwart, mit denen Capus seine Figuren ausstattet.

Im Gegensatz zum Stellungskrieg in Europa war der Krieg in Afrika von niedriger Intensität und bot den Beteilig­ten eine Menge Kampfpausen, die zum Reflektieren anregten. Das offeriert das Buch. Alles «eine Frage der Zeit» also, worauf der Titel verweist, um vom militärischen Geist abzurücken. Auch auf Spicer Simson übt das als langsam erlebte Afrika Einfluss aus. Nachdem sein Kommando das altersschwache deutsche Schlachtschiff «Wissmann» mühelos überrumpelt hat, verliert auch für ihn der Krieg jegliches Heldentum. Geläutert führt er seine Mission zu Ende.

Alex Capus hat einen moralischen Roman geschrieben, der durchaus als Antikriegsbuch zu lesen ist, wenngleich das die Handlung nur unzureichend erfasst. Zwar überschattet der Erste Weltkrieg das Geschehen, aber die Gefechte stehen keineswegs im Mittelpunkt. Vielmehr erstellt der Stilist Capus in seinem Roman ein detailgetreues koloniales Panorama, in dem Fiktion und Wahrheit untrennbar miteinander verwoben sind. Die «Graf Goetzen» etwa hat es wirklich gegeben, sie wurde vor den herannahenden Alliierten im Juli 1916 in einer Bucht bei Kigoma versenkt. Im Buch ist es Anton Rüter, der sein Schiff nicht preisgeben will und es mit gut geschmierten Motoren im seichten Wasser verschwinden lässt - um es nach dem Krieg jederzeit wieder bergen zu können. Das geschah tatsächlich: Noch heute, fast neunzig Jahre nach dem Kriegsende, fährt das Schiff unter dem Namen «Liemba» als Personenfähre auf dem See.

Alex Capus, "Eine Frage der Zeit"
DTV, München 2018 (Neuausgabe)
304 S., 10,90 EUR
 


Giles Foden und Alex Capus: Ein Schweizer und ein englischer Schriftsteller schreiben zufällig über dieselbe Geschichte aus deutscher und aus britischer Sicht

Warum man beide Bücher über die "Graf von Götzen" unbedingt gemeinsam lesen sollte
 
Von Rudolf Blauth
 
Merkwürdigerweise ist es bislang noch keinem Rezensenten aufgefallen: Zwei erfolgreiche Autoren, der Schweizer Alex Capus und der Engländer Giles Foden, beschließen offensichtlich zu fast derselben Zeit, ein Buch über das Zusammentreffen der deutschen und der britisch-belgischen Kolonialtruppen vor dem ersten Weltkrieg am Tanganikasee zu schreiben. Der Schweizer Autor schildert aus deutscher Sicht den abenteuerlichen Transport eines großen deutschen Schiffes von Papenburg über Dar es Salaam nach Kigoma, sein britischer Kollege den nicht minder aberwitzigen gleichzeitigen Transport zweier kleinerer Schiffe von London über Südafrika quer durch Afrika über Berge (Fitzcarraldo läßt grüßen) zur gegenüberliegenden Seite des Tanganika-Sees.
 
Beide Autoren schildern anschließend die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft auf diesem strategisch so wichtigen See: Der eine aus britischer, der andere aus deutscher Sicht.
 
Und beide Autoren übertreffen sich vollkommen unabhängig voneinander in der humvorvolle Beschreibung skurilster Typen und Situationen. Erst durch die Lektüre des englischen Romans wird deutlich, dass der britische Offizier Spicer Simson in Wirklichkeit noch viel abgedrehter ist, als dies dem Leser in dem Buch von Capus vermittelt wird.
 
Beide Romane sind mit einem Abstand von nur wenigen Monaten in deutscher Sprache erschienen und man sollte sich vom falschen deutschsprachigen Titel des Giles-Roman nicht von dem einmaligen Vergnügen abhalten lassen, beide Bücher hintereinander zu lesen. Einen kleinen Unterschied gibt es dann aber doch noch: Während der Roman von Capus mit dem Versenken der "Graf von Goetzen" endet, erzählt Foden die Geschichte des Schiffes und auch das weitere Schicksal der deutschen Ingenieure zu Ende. Also auch insofern eine tolle Ergänzung.

Giles Foden, "Die wahre Geschichte der African Queen"