Abdulrazak Gurnah: "Die Abtrünnigen"

Afrika, frühe fünfziger Jahre: Der ganze Kontinent wird von Aufständen gegen die koloniale Fremdherrschaft erschüttert. Inmitten dieser politischen Umwälzungen wachsen in Sansibar die Geschwister Amin, Rashid und Farida auf.

Amin verliebt sich in die einige Jahre ältere Jamila, und es beginnt, zunächst heimlich, eine große, leidenschaftliche Liebesbeziehung, die aber schon bald am Widerstand seiner Familie und an den gesellschaftlichen Zwängen zu zerbrechen droht. Denn um die geheimnisvolle Jamila ranken sich allerlei Gerüchte: schon einmal sei sie verheiratet gewesen, ihr Mann habe sie verstoßen, ein Fluch liege auf ihrer Familie.

Im Strudel der Revolution müssen die drei Geschwister voneinander Abschied nehmen. Rashid geht nach Europa, es werden Jahrzehnte vergehen, bis er seine Familie wiedersieht.

Doch das tragische Schicksal seines älteren Bruders lässt Rashid auch im fernen Europa nicht los, und er begibt sich auf eine Spurensuche, die ihn tief in die afrikanische Kolonialgeschichte führt – und schließlich das Geheimnis um Jamilas Familie lüften lässt: Auch ihre Großmutter hatte einst für eine verbotene Liebe alles riskiert …

Abdulrazak Gurnah, "Die Abtrünnigen"
Aus dem Englischen von Stefanie Schrader-de Vries
Berlin Verlag, Berlin 2006
350 S., 22,90 EUR

 


TAZ v. 24.2.07: "Ein brillanter Erzähler"

Großen Eindruck hat der sechste Roman Abdulrazak Gurnahs bei Rezensent Tobias Rapp hinterlassen. Der britische Literaturprofessor und "brillante Erzähler" vermittele darin "kunstvoll" und, wie sich Identitäten in unseren postkolonialen Zeiten herstellen.

Der Roman erzählt Rapp zufolge "eine doppelte Liebesgeschichte". Die eine spiele um 1900 zwischen einem britischen Orientalisten und einer Kenianerin namens Rehana und scheitere am Ende, trotz eines gemeinsamen Kindes. Protagonisten der zweiten, ebenfalls scheiternden Liebengeschichte fünfzig Jahre später seien der Erzähler und die Enkelin der unglücklichen Rehana.

Im Spannungsverhältnis dieser beiden Liebesgeschichten macht der Autor offensichtlich sehr eindringlich nachvollziehbar, wie sich der Kolonalismus in die Seelen der Menschen gegraben hat und jenseits ihres Willens ihr Handeln und Fühlen steuert. In seine Kernerzählung flechte Gurnah auch viele weitere Geschichten ein, die für Rapp die postkoloniale Tragödie insgesamt ausgesprochen ergreifend nachvollziehbar machen.

Aus: www.perlentaucher.de 
 


"Geschichte und Identität"

Buchbesprechung von Heinz Hug

Die vier bis jetzt auf Deutsch vorliegenden Romane des aus Sansibar stammenden Schriftstellers Abdulrazak Gurnah zeigen das Thema der Identität als Kern seines Schreibens. Drei davon haben mit der Emigration von Sansibar nach England zu tun: mit dem Gefühl, an einem Ort zu leben, aber von einem anderen zu kommen, mit der Erinnerung an die Heimat und manchmal auch mit der Konfrontation dieser Erinnerungen mit der heutigen afrikanischen Wirklichkeit.

Auch in Gurnahs neuestem Roman, «Die Abtrünnigen» (im Original «Desertion», 2005), der nun in einer trefflichen Übersetzung von Stefanie Schaffer-de Vries auf Deutsch vorliegt, geht es um Identität. Allerdings holt Gurnah zeitlich weiter aus. Er stellt Identitäts- und Alteritätsmodelle zur Diskussion, die sich unter vorkolonialen und kolonialen Bedingungen entwickelten: einerseits eine statische Auffassung von Identität, die im Fremden das ganz Andere sieht, und anderseits die Vorstellung, dass zwischen dem Selbst und dem Anderen etwas in Bewegung geraten kann.

Der komplex komponierte Roman setzt im Jahre 1899 ein: Martin Pearce, ein englischer Orientalist mit kolonialkritischen Ideen, taucht völlig erschöpft im Inder-Quartier einer südkenyanischen Küstenstadt auf. Der ängstliche Krämer Hassanali nimmt ihn, da Gastfreundschaft für ihn selbstverständlich ist, bei sich auf - bis der örtliche Kolonialvertreter davon erfährt. Fortan hat Pearce Gastrecht in dessen repräsentativer Villa, seine Gedanken aber sind bei Hassanalis Schwester Rehana, die ihn gesund gepflegt hat. Es entsteht eine heimliche Liebschaft zwischen den beiden, sie ziehen nach Mombasa, doch nach einiger Zeit kehrt Pearce allein nach England zurück.

Den letzten Teil dieser Geschichte erfahren wir in einem «Gedanklichen Zwischenspiel», in dem neben den Mutmassungen über Rehanas weiteres Schicksal die Erzählsituation des Romans geklärt wird. Die bisher wiedergegebene Handlung ist eine spätere Rekonstruktion des Geschehens durch Rashid, der im heutigen England als Professor tätig ist. Er gehört zu einer Familie auf Sansibar, deren Schicksal in den fünfziger und sechziger Jahren wir im zweiten Teil des Romans erfahren. In den Abschnitten, in denen es um Rashids Weggang zum Studium in England geht, erzählt er erwartungsvoll und unbekümmert in der Ich-Form; in Rehanas Geschichte tritt er quasi als auktorialer Erzähler auf. Die zweite Geschichte enthält überdies Tagebuchaufzeichnungen von Rashids Bruder Amin. So entsteht ein literarisches Gebilde, das in überzeugender Weise verschiedene Handlungsstränge, Erzählebenen und Perspektiven in sich vereint.

Auch in Rashids Familie gibt es eine leidenschaftliche, aber unmögliche Liebe: Der achtzehnjährige Amin verliebt sich in die einige Jahre ältere, geschiedene Jamila. Ein abruptes Ende nimmt diese Liebe nach ihrer Entdeckung aber nicht wegen des Altersunterschieds, sondern weil Jamila die Enkelin Rehanas ist. Das Urteil der Gesellschaft, diese sei ein nicht tolerierbares Verhältnis mit einem Weissen eingegangen, hat den Ruf ihrer Familie für Generationen beschädigt.

Die Identitätsvorstellung, in der Fremdes keinen Platz hat, zeigt sich demnach auf beiden Seiten: in der kolonisierten Welt in der Ächtung der Menschen, die die Grenze zum Anderen übertreten; in der Welt der Kolonisten in einem Rassismus, der die Fremden ausschliesst. Am deutlichsten zeigt Gurnah diese Position am Plantagenbesitzer Burton, der - in sozialdarwinistischer Manier - die Meinung vertritt, die Afrikaner würden die Begegnung mit der Zivilisation nicht überleben.

Auf der «afrikanischen» Seite zeigt sich eine ähnliche Position auch in der «Revolution» in Sansibar im Jahre 1964: Die unabhängig gewordene Regierung des Sultans wird durch Vertreter der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gestürzt, Tausende aus der arabischen und indischen Elite werden massakriert oder ins Exil getrieben. Rashids Familie überlebt, doch der Vater verliert seine Stelle als Lehrer. Fortan führen Amin und seine Eltern ein dürftiges Leben in ständiger Angst, nur die tatkräftige Schwester Farida erfährt ein besseres Los. Rashid setzt sich erfolgreich gegen die abschätzige Behandlung seiner englischen Mitstudenten ein, verliert aber die Beziehung zu seiner Familie immer mehr.

Rehana, Amin und auch Rashid, die die eng begrenzten Identitätsvorstellungen durchbrochen haben, zahlen einen hohen Preis. Die Darstellung, wie diese drei Menschen mit ihrem Kummer umgehen, bildet neben der Identitätsthematik und den intensiven, detaillierten Beschreibungen der verschiedenen sozialen Sphären, insbesondere der Kisuaheli- und der Muslim-Kultur in Ostafrika, die dritte wichtige Dimension von «Die Abtrünnigen». Mit diesem Roman ist Gurnah ein grosses Werk gelungen. Der Rückgriff auf die Geschichte zeigt plausibel die Ursprünge einer Welt, in der - trotz Globalisierung - bei weitem nicht alle Menschen als gleichwertig betrachtet werden und in der Ausgrenzung oder gar Vernichtung des anderen an der Tagesordnung sind.

Aus: "Neue Zürcher Zeitung" v. 20.1.2007
 



Knallhart realistischer Roman

Von Marko Martin

Der siebte Roman des aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah spielt an der ostafrikanischen Küste. In "Die Abtrünnigen" geht es um Zugehörigkeit und den Mut, so etwas wie individuelles Glück zu suchen. Im Jahre 1899 verliebt sich ein englischer Orientalist in die Schwester eines schwerreichen, indischstämmigen Einheimischen - ein unerlaubter Bruch mit der geltenden Konvention.

Abdulrazak Gurnah ist, ähnlich wie der Literaturnobelpreisträger Sir V.S. Naipaul, auf einer kleinen Insel geboren, welche er mit knapp zwanzig Jahren verließ, um im einstigen "Mutterland" Großbritannien zu studieren und anschließend Bücher zu schreiben - über seine Insel und das Sich-Durchdringen von Kulturen, Traditionen und Zeiten.

Damit aber enden auch schon die Parallelen zwischen dem 1932 auf dem Karibik-Eiland Trinidad geborenen Sir V.S. Naipaul und jenem aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah, der 1968 vor dem realsozialistischen Regime seines Heimatlandes nach Großbritannien flüchtete und seit 1985 an der Universität von Kent Literatur lehrt.

Gewiss: Naipaul ist - bis jetzt - nicht nur im angelsächsischen Raum ungleich berühmter, wenn auch seine stilistische Brillanz, einhergehend mit profunder Ideologieskepsis, seit den letzten Romanen einige Ermattungserscheinungen aufweist und eher zum Mittel geworden scheint, einem rabenschwarzen Fatalismus das (rhetorische) Wort zu reden. Vielleicht ist es ja doch sinnvoll, Abdulrazak Gurnah, dessen vorherige Romane bislang nur in einem couragierten Münchner Kleinverlag erschienen waren, mit oder gegen Naipauls Bücher zu lesen.

"Die Abtrünnigen", Gurnahs siebter und soeben im Berlin Verlag auf deutsch erschienener Roman, spielt nämlich ebenso wie Naipauls "Ein halbes Leben" an der ostafrikanischen Küste. Hier wie dort geht es um Zugehörigkeit und jene Fremdheit, die jeden gleich einem cordon sanitaire zu umschließen beginnt, der es wagt, an den Riten eben jener Zugehörigkeit vorbei so etwas wie individuelles Glück zu suchen. Die Geschichte beginnt im Jahre 1899, als sich ein englischer Orientalist in die Schwester eines schwerreichen, indischstämmigen Einheimischen verliebt - ein unerlaubter Bruch mit der geltenden Konvention.

Im zweiten Teil des Romans wird die Geschichte von Jamila, der Enkeltochter der beiden "Abtrünnigen", erzählt. Diese verliebt sich in den etwas jüngeren Amin, und erneut setzen die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung ein. Daran ändert sich auch nichts, als das halb-feudale Sansibar schließlich zum sozialistischen Musterland wird, das sogar von der DDR Unterstützung erhält. Die Herren kommen und gehen, der Zwang aber bleibt. Und die Liebe - ist sie stärker? Abdulrazak Gurnah schreibt keine kitschigen Schmöker, sondern ebenso poetische wie knallhart realistische Romane.

Das bedeutet: Seine Helden scheitern. Die Kraft aber, und die Eindringlichkeit, mit der er von ihnen erzählt, lassen sie weiterleben in einer Literatur, deren Wert sich nach dem bemisst, was Albert Camus einmal forderte:

"Es kommt darauf an, den Menschen Gründe gegen ihr Schicksal zu liefern."

Nichts Geringeres unternimmt dieser Roman.

Aus: "Deutschlandradio" v. 23.3.2006