Neues Tansania-Buch: "Usambara" von Christof Hamann

Reise zum Kilimandscharo: Christof Hamann fordert seine Leser

"Usambara" klingt wie ein Zauberwort. Es lockt den Leser sofort in die Ferne. (...) Fritz Binder, Postbote im Bergischen Land, ist fasziniert von den Abenteuern seines Urgroßvaters Leonhard Hagebucher, der Ende des 19. Jahrhunderts an zwei Expeditionen in Ostafrika teilgenommen hat. Dabei habe er im vorigen Jahrhundert das Usambaraveilchen entdeckt, sagt seine Mutter. Leider sei die Pflanze beim Araberaufstand verloren gegangen, erinnert sich der Erfurter Gärtner später aus seinem Lehnstuhl - damals, auf der Expedition im Jahre 1888, in der Gefangenschaft des Rebellenführers Buschiri. (...)

Mit dabeigewesen sei er, als Dr. Meyer im darauffolgenden Jahr mit dem österreichischen Bergsteiger Ludwig Purtscheller als erster den Kilimandscharo bezwungen habe - den zur Kolonialzeit höchsten Gipfel im Deutschen Reich. Aber das Usambaraveilchen habe er auch 1889 nicht mit nach Europa bringen können.

So weit zumindest die Familienüberlieferung. Denn: Leonhard Hagebuchers Name wird in keinem der Reiseberichte erwähnt. Manche Abenteuer klingen eben so weit hergeholt, als wären sie erfunden. Aber einige Geschichten werden einfach so oft erzählt, als würden sie durch die Wiederholung wahr.

Zwei Briefe des Urgroßvaters könnten Aufschluss über die Echtheit der Geschichte geben. Aber Fritz scheut sich, sie übersetzen zu lassen. Denn die urgroßväterlichen Abenteuergeschichten haben seine Kindheit geprägt. Mit Sandkastenfreund Michael hat er sie im Solinger Lochbachtal immer wieder nachgespielt. Jetzt, nach dem Tod der Mutter, hat er endlich das Geld, seinen Kindheitstraum wahrzumachen: Auf den Spuren des Pflanzenjägers wollen beide gemeinsam nach Afrika reisen, um den Kilimandscharo zu besteigen. Mit seinen vom Urgroßvater geerbten langen Beinen sieht Michael für Fritz gute Chancen, den Kibo-Gipfel zu erreichen. (...)

Tatsächlich wird der Gipfelsturm für Fritz zum "Marsch zu sich selbst" - wie Hans Meyer laut der Erzählung seinen Reisebericht über die Erstbesteigung des Kibo überschreiben will. Schon in der Vorbereitung beim Berchtesgadener Trainingslauf übers Purtschellerhaus zum Hohen Göll stößt er an seine körperlichen Grenzen. Und er wird zunehmend in die familiäre Vergangenheit involviert. (...)

Detailgenaue Reisebeschreibungen werden dabei zunehmend von surrealen Sequenzen durchwirkt - ein Markenzeichen des Autors. Kaum mehr sind Realität und Fieberfantasien des höhenkranken Bergläufers Fritz auseinanderzuhalten. Was ist Wahrheit, was erfunden? (...) Wer kennt sich da noch aus, wenn der Autor im Strudel assoziativer Reihungen, rhythmisierter Wortketten und halluzinativer Verknüpfungen am Ende Räume, Zeiten und Realitätsebenen kunstvoll ineinanderwirbelt? Christof Hamann hat den Leser im Verlauf höchst dramatischer Erzähldynamik mit auf den Gipfel des Kilimandscharo geführt und lässt ihn nun mit dem Helden abstürzen. Der Kilimandscharo ist eben mehr als nur ein Berg.

Christof Hamann verbindet Abenteuer- und Entwicklungsroman, verknüpft Hagebuchers Familiengeschichte mit botanischen Fakten, historische Reiseberichte mit kritischer Geschichtsanalyse und arbeitet zahlreiche weitere Subtexte ein. Alles genauestens recherchiert und streng erfunden, selbstverständlich.

(Michael Schmitz im "Deutschlandfunk" v. 22.10.2007) 


Der Berg des Schicksals

14. November 2007 Leonhard Hagebucher hieß der verkrachte Theologiestudent aus Wilhelm Raabes Roman "Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge": ein entgleister, entwurzelter, "fabelhafter" Träumer, der nach zwölf Jahren Gefangenschaft nicht mehr Fuß im heimischen Bumsdorf bei Nippenburg fassen kann. Dennoch: lieber Sklave am Fuße der Mondberge als eine gesicherte Existenz im "germanischen Spießbürgertum".

Wenn Christof Hamann von einem gewissen Leonhard Hagebucher erzählt, der um 1890 im Gefolge der Afrika-Reisenden Hans Meyer und Oscar Baumann den Kilimandscharo bestiegen und das Usambaraveilchen nach Deutschland gebracht haben soll, ist also Vorsicht geboten. Zumal sein Urenkel, der Wuppertaler Postbote Fritz Binder, seine generationenübergreifende Abenteuergeschichte als sesshafter "Sitzzwerg" beginnt: "Von den Hagenbuchers sagte man von Anfang an, dass sie es vor allem mit den Beinen hatten. Sie konnten, so hieß es, träumen mit ihren Beinen. Sich wegträumen an Orte, die noch kein Mensch gesehen hatte. Vom Lehnstuhl zum Krater ist es nur ein kleiner Schritt. Also los."

Meyer hat tatsächlich am 2. Oktober 1889 als Erster den Kilimandscharo, den damals höchsten Berg des Deutschen Reiches, bestiegen und nach Kaiser Wilhelm benannt. Von einem Gärtner mit dem Restless-Legs-Syndrom und dem geflügelten Wort "Nur mal langsam" ist in Meyers "Ostafrikanischen Gletscherfahrten" (1890) freilich keine Rede. Hagebucher ist so frei erfunden wie sein Urenkel, der angeblich beim "Kilimandscharo Benefit Run 2006" zugunsten der letzten afrikanischen Gletscher und des Weltfriedens überhaupt Achtundsiebzigster wurde.

Wahr ist dagegen, dass der Tourist Christof Hamann den Kilimandscharo bestiegen hat, und weil es vom Berg zum Schreibtisch, von der deutschen Vergangenheit zur Gegenwart nur ein kleiner Schritt ist, haben wir jetzt, nach etlichen innerfamiliären Spurensuchen, afrikanischen Auto- und postkolonialen Entdeckerbiografien, den ersten Afrikafamilienroman: Abu Hamann oder Die Vermessung des Mondgebirges.

Was Uwe Timm einst in "Morenga" für Deutsch-Südwest, tut Hamann in seinem dritten Roman für Deutsch-Ostafrika: Er verknüpft Fakten mit Fiktionen, historische Dokumente wie Meyers "Gletscherfahrten" und Baumanns "In Deutsch-Ostafrika während des Aufstandes" mit einer Geschichte von Hier und Heute zu Kippbildern deutscher Abenteuerlust und Afrika-Sehnsucht. Hagebucher lief mit der Botanisiertrommel die Kaiser-Wilhelm-Spitze hinauf und die Usambaraberge hinunter. Er verlor das unscheinbare Veilchen, das er nach seiner Verlobten benennen wollte, als die Forscher von dem arabischen Warlord Buschiri entführt wurden, und als er es im zweiten Anlauf endlich nach Hause bringt, hat ein Baron Saint Paul ihn um Entdeckerruhm und Namensrecht betrogen. So heißt das Pflänzchen vom Mondberg heute weder Hagebucheria noch Maria-Theresia-Veilchen. Gedüngt mit dem Blut der Eingeborenen, ausgegraben von einem unruhigen Träumer, von grimmigen Kolonialherren in die kalte deutsche Erde umgetopft, welkt das hoch symbolische Pflänzchen heute als Lieblingsmauerblümchen des Spießers vor sich hin.

Fritzchen spielt mit seinem Sandkastenfreund Michael schon als Kind Urgroßvaters Abenteuer im Mondgebirge nach. Die rastlosen Beine und ein Gefühl dunkler Schuld lassen auch den erwachsenen Fritz nicht ruhen, und so macht er sich daran, den kolonialen Gewaltmarsch - Meyer wollte seinen Gipfelsturmrapport angeblich "Mein langer Marsch zu mir selbst" nennen - durch seine Teilnahme am Benefiz-Berglauf zugunsten der letzten afrikanischen Gletscher und des Weltfriedens überhaupt zu sühnen. Nur mal langsam: Man kann auch für eine bessere Welt laufen, selbst wenn Binders boxende Freundin Camilla das Unternehmen strikt ablehnt und ein Ex-Außenminister sich zum Händeschütteln und Phrasendreschen einfliegen lässt. Hamann beschreibt das groteske Charity-Rennen wunderbar grotesk, aber sein Versuch, Binders physische und moralische Erschöpfung in einem hechelnden Stakkato lautmalend abzubilden, ist auch für den Leser ziemlich anstrengend. "Hinab, hundert Jahre hinab und ein paar zerquetschte hinauf, auf meinen KiboMond, das wunderbare Usambaaaaaaaaraaaaaaaa, im Himmel unter mir, da werden die Mönchsgeier kreisen und das Okapi und der Uropi mit der Uromi im rauschhaften Tanz ..." "Der Kilimandscharo ist ein stimmenreiches Gebirge", und so gehen auch in Binders halluzinierendem Kopf afrikanische Sagen und deutsche Mythen, Max Schmeling und Professor Grzimek, Erinnerungen an den tapferen Uropa, den "fußlahmen Nazi-Opa", die sterbende Mutter und die Bettboxkämpfe mit Camilla wild durcheinander. Am Ende kommt der höhenkranke Postbote aus dem Würgen und Brechen und auch aus dem Plumpsklo gar nicht mehr heraus.

Nun aber mal langsam. Schon Raabe erzählte im "hüpfenden Zickzack", und auch Günter Herburger hat ein "Marathon-Pidgin" von Lauf und Wahn, Durchfall und Durchhalteparole erfunden. Aber es geht dort nicht ganz so steil über Stock und Stein, und manchmal gibt es auch Ruhepausen. So gern man von Hagebuchers traurig-komischer Suche nach der blauen Blume liest: Was sein Urenkel in seinen Fußstapfen findet, ist eher vorhersehbar. Schon klar: "Du kannst nicht aus der Welt hinauslaufen." Aber muss man für die Erstberennung des Kilimandscharo wirklich am Obersalzberg trainieren? Und sich politisch korrekt bei jedem ehrgeizigen Mit-Läufer und natürlich auch bei der Siegerehrung erbrechen, um jeden Anflug deutschnationalen Pathos zu brechen?

(Martin Halter in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" v. 14.11.2007)


Lesungen

23.01.08 Bamberg, Universität 5, Hörsaal U5/024, 20.00 Uhr
06.02.08 Berlin, LCB
22.02.08 Harsewinkel, Bibliothek, 20.00 Uhr
01.03.08 Köln, litCologne (vorgestellt von Uwe Timm)


Christof Hamann, "Usambara"
Verlag Steidl, Göttingen 2007
264 S., 18 EUR