11.12.08

50 Jahre "Serengeti darf nicht sterben": Wie das Vermächtnis der Grzimeks die Zeit überdauert


Dr. Markus Borner

Dr. Markus Borner (ZGF)

Die Könige sind satt. Jetzt befasst sich die Gesundheitspolizei mit der Angelegenheit. Zwei Dutzend Geier sitzen und hüpfen um den toten Büffel herum, ein zänkischer Haufen, getriezt und getrieben von Futterneid. Sie wühlen im Bauch, hacken in die leeren Augenhöhlen und balancieren auf den wulstigen Hörnern. Einer hat seinen Kopf tief in den Schlund des Kadavers gesteckt und zieht und zerrt, die Krallen fest in die Erde gestemmt, an der Zunge. Metallisch glänzt das Gefieder, ein kehliges Krächzen erfüllt die Luft, und öfter als in die Beute schnellen die hakigen Schnäbel gegeneinander. Dazwischen stolzieren wie versehentlich zwei Marabus, gestrafteste aller Tiere, was ihre glatzköpfige Erscheinung angeht, und versuchen, der gierigen Konkurrenz ein paar fertig zerteilte Brocken wegzuschnappen.

Die königlichen Familien haben den Schlachtplatz vor einer Stunde verlassen. Satt und zufrieden spazierten sie am Fluss entlang, sechs Weibchen, ein stolzer Macho und 18 Junge. Gelangweilt nahmen sie den Landcruiser zur Kenntnis, von dem aus wie Sperrfeuer das Klacken der Kameras auf sie niederging. Zärtlich fuhren die Löwinnen ihren Kleinen mit der Zunge übers Fell, stupsten sie mit der Pfote, wenn es nicht so recht vorwärts ging und warteten auch schon mal auf einen allzu tapsigen Nachzügler, der mit großen Augen und geweiteter Nase die Welt in sich aufnahm. Sie querten das Wasser an einer flachen Stelle und ließen sich 200 Meter entfernt unter einem Baum zur Siesta nieder.

Was für ein Morgen

Was für ein Morgen: Das Drama des Lebens in blutigen Bildern zelebriert, untermalt von der Kakophonie der Aasfresser und einem scharfen Geruch nach Verwesung. Safari in der Serengeti - und vor den Besuchern liegt noch ein ganzer Tag, der nur dem einen Ziel gewidmet ist, Tiere aufzuspüren und zu beobachten. 14 763 Quadratkilometer umfasst der Nationalpark Serengeti in Tansania, geteilt in drei verschiedene Landschaftsbereiche: Da sind die großen, flachen Savannen hinter dem Haupttor im Süden, plattes, schattenloses Land. Rund um Seronera kommen Büsche dazwischen auf, Flüsse schneiden sich ein, von Galeriewäldern gesäumt, dunkelgraue Felsen stecken im Boden wie riesige schwarze Schädel. Nach Norden hin, Richtung Kenia, wellt sich das Land zu Hügeln, Waldstücke wechseln mit Grasland, und Akazien spannen sich wie Schirme auf.

Dies ist der Landstrich, den Bernhard Grzimek und sein Sohn Michael vor 50 Jahren weltberühmt gemacht haben. "Serengeti darf nicht sterben" - das Buch wurde zum Bestseller und in 23 Sprachen übersetzt. Der Film erhielt als erste deutsche Produktion nach dem Zweiten Weltkrieg einen Oscar. Michael erlebte den Triumph nicht mehr, er war bereits am 10. Januar 1959 mit dem Flugzeug abstürzt. Begraben ist er am Rande des benachbarten Ngorongoro-Kraters unter einer einfachen Steinpyramide. Sein Vater aber stürzte sich umso entschlossener in die Aufgabe, dieses einzigartige Stück Natur vor der Zerstückelung zu bewahren. Wie die Grzimeks von ihrer zebragestreiften Dornier-27 aus Tiere zählten, wie sie gefangene Gnus aus Schlingen befreiten und mit Dorfältesten diskutierten, zeigt eine Ausstellung im Besucherzentrum bei Seronera im Herzen des Parks. Als Blickfang dienen Bernhard Grzimek und Julius Nyerere, der erste Staatschef Tansanias, im lebensgroßen Starschnitt, dazu heulen Hyänen und knurren die Löwen - vom Band. Bernhard Grzimek starb am 13. März 1987, die Urne wurde im Grab seines Sohnes beigesetzt. Heute kann man gar nicht anders, als dem charismatischen, wenn auch menschlich nicht immer einfachen Frankfurter Zoodirektor dankbar zu sein, dass er sich nicht beirren ließ: Die Serengeti lebt.

Heute genügt klassischer Naturschutz nicht mehr

Grzimeks Erbe führt die Frankfurter Zoologische Gesellschaft in ihrer Station in Seronera weiter. Joe Ole Kuwai hat noch persönlich mit Bernhard Grzimek zusammengearbeitet. Während der ersten Jahrzehnte ging es vor allem darum, die Parkgrenzen zu sichern und die Tiere durch strenge Kontrollen zu schützen. Heute genügt klassischer Naturschutz nicht mehr. Zwar werden immer noch Zebras gezählt, Gnus mit Halsbandsendern versehen, man bildet Ranger weiter und finanziert mobile Tierärzte. Aber Tansanias Bevölkerung wächst, Gärten und Felder stehen immer dichter und rücken näher an die Parkgrenzen. Die Duldsamkeit, wenn Elefanten ein paar Quadratmeter Mais wegfuttern oder eine Gnuherde das Hirsefeld zertrampelt, nimmt ab. "Wir versuchen, die Menschen rund um den Park durch Community-Conservation-Programme in den Naturschutz einzubinden", sagt Kuwai. "Sie sollen lernen, ihr Land selbst zu verwalten, sie können Wildhüter ausbilden und Wandertouren entwickeln, die zu Wildtieren führen - kurz: Sie müssen etwas davon haben, wenn sie die Tiere schützen."

Markus Borner wurde noch vom Frankfurter Übervater persönlich als Leiter des Afrika-Programms eingesetzt, ein Amt, das er mit Charme, Witz und viel Gespür für Medienwirksamkeit ausfüllt. "Bernhard Grzimeks größtes Verdienst", sagt der Schweizer Biologe, der seit 1984 in der kleinen Ansiedlung namens Frankfurt lebt, "war, dass er Afrikas jungen Politikern vertraute, und hier in Tansania etwa Julius Nyerere vermitteln konnte, welche Bedeutung der Naturschutz für die Zukunft ihrer Länder hat."

"Der Tourismus ist eine zweischneidige Angelegenheit"

Mittlerweile steht die Serengeti neuen Herausforderungen gegenüber. Jedes Jahr besuchen 120 000 Touristen den Park. Wenn aus der Ebene zehn, elf, zwölf Wagen sternförmig einem Punkt zustreben, weil einer der Guides per Funk eine frisch geschlagene Gazelle oder ein einsames Nashorn gemeldet hat, kommt es schon mal zum Leopard-Stau oder zur Rhino-Rushhour. "Der Tourismus ist eine zweischneidige Angelegenheit", sagt Borner. Der tansanische Naturschutz braucht die 50 Dollar Eintritt, die jeder Besucher bezahlt, dringend, um dichte Kontrollen aufrechtzuerhalten. Die Tiere kommen mit der Masse an Neugierigen ganz gut zurecht - bis auf die Nashörner, die fast alle in Extra-Schutzgebieten abseits gehalten werden. Die Frage sei vielmehr, ob der Tourismus sich nicht selbst ersticke, meint Borner. "Wenn zwei Dutzend Autos um ein Löwenpaar herumstehen und alle Leute knipsen, knipsen, knipsen - machen die sich nicht gegenseitig das Erlebnis kaputt?"

Im vergangenen Jahr hat sich die Lage etwas entspannt, weil nach einem neuen "General Management Plan" bisher verschlossene Gebiete zugänglich gemacht und neue Wege geöffnet wurden. Pläne der tansanischen Regierung, Herbergsbetriebe mit insgesamt 5000 neuen Betten im Park zu schaffen, sind glücklicherweise endgültig vom Tisch. Derzeit ist die Zahl der Unterkünfte überschaubar - ein paar hundert, nicht mehr. Sie reichen von exklusiven Zeltcamps mit Privatbutler und Champagnerfrühstück bis zu Hotels, die sich traditionsgemäß Lodges nennen. Sie wurden in den sechziger und siebziger Jahren in Natursteinoptik in die Landschaft integriert, die jeweils 60 bis 70 Zimmer strahlen immer noch den kargen Charme der sozialistischen Ära aus. Abends tanzen Kellner und Zimmermädchen im Fackelschein, die Gäste speisen im großen Saal vom Buffet und trinken Serengeti-, Safari- oder Kilimandscharo-Bier. Und nachts heulen die Hyänen vor dem Fenster und es knistert und knackt dramatisch im Busch.

Doch noch ist es Tag und die Löwen sind zugange. Haupt an Haupt ruht das Paar, er blickt hechelnd starr, sie hat den Kopf mit geschlossenen Augen auf die Pranken gelegt. Von dem Wagen, der sich nähert, nehmen sie kurz und uninteressiert Notiz. "Sie machen schon die ganze Nacht Hochzeit", umschreibt der Guide dezent das Geschehen und lässt sich ein wenig mehr über die amourösen Großtaten der Großkatzen aus. "Zweimal pro Stunde machen sie Hochzeit, bis zu einer Woche lang. Dabei legen sie keine größeren Pausen ein und schlafen auch nie lange. Allenfalls schnappt sich das Weibchen mal ein Stück Wild, das leicht zu greifen ist. Wenn sie genug voneinander haben, gehen sie auseinander, jeder in eine andere Richtung. Nach drei Monaten wirft die Löwin dann Junge."

Zwischen eineinhalb und zwei Millionen Gnus

Und dann kommen sie. Ein schwarzer, weit gestreuter Zug im strohblonden, sandbraunen Land. Horn an Horn, mit wippenden Bärten und stampfenden Hufen rückt eine Herde Gnus grasend über die Ebene heran. Staub stiebt hoch wie roter Rauch, Kälber blöken. 500, 600 Tiere sind es, dazwischen Gruppen von Zebras. Eine grunzende, scharrende Masse von Leibern schiebt sich voran, formt sich irgendwann zur Kette, Tier hinter Tier, eine sorgfältig ausgerichtete Linie - als liefere ein unsichtbarer Dompteur sein Meisterstück ab. Und doch ist es nur ein bescheidenes Bild, gemessen an den riesigen, ganze Ebenen füllenden Herden, die jedes Jahr zur großen Wanderung aufbrechen - und zu dieser Zeit schon in der Masai Mara in Kenia weiden. Zwischen eineinhalb und zwei Millionen Gnus, Zebras und Gazellen, zehnmal so viele wie vor 50 Jahren, machen sich dann auf den Weg nach Norden und folgen Regen und sprießendem Gras, mehr als tausend Kilometer, über Park- und Staatsgrenzen hinweg, durch den Grumeti und den Mara-Fluss, wo riesige Krokodile schon träge auf ihren Anteil warten. "Wie viele Gnus es gibt", sagt Markus Borner, "hängt einzig davon ab, wie viel Regen fällt im Mara-Schutzgebiet, und wie viel Gras heranwächst im Norden der Serengeti."

Es wird Abend in der Steppe. Das Gras färbt sich silbern, die Akazien stehen wie akkurate Scherenschnitte vor blauen Hügelketten, Honiglicht sickert zwischen die Büsche. Wieder ein Tag, an dem gezeugt, gefressen, gestorben wurde in der Serengeti - vielleicht kommt der Besucher dem Sinn allen Lebens hier am nächsten. Noch keckern Meerkatzen, schnürt ein Schakal, ziehen tiefschwarze Kolosse vorüber - der sechste Tag der Schöpfung ist fast vollendet. Noch fehlt im Garten Eden ein Wesen namens Mensch - aber eigentlich vermisst es keiner seiner Bewohner so richtig.

(Von Franz Lerchenmüller in "Süddeutsche Zeitung" vom 11.12.2008)